Montag, 17. Dezember 2012

17. Türchen


Hamburg - das Tor zur Welt. Oder wohl eher der Personaleingang zur Welt. In der Nacht vom 29. auf den 30. November blieb jedenfalls beides geschlossen. Aus betrieblichen Gründen. Reiner Hohn. Wer konnte damit rechnen, dass Hamburg ab 0:00 Uhr die Bordsteine hochklappt? Niemand! Bis auf die Besoffenen und Nutten auf dem Kiez, macht keiner mehr was los. Aber dort wurden die Bordsteine auch über die Jahre durch Autoscheiben gescheppert oder eben gelatscht.

Wir kamen von dem The XX Konzert und steuerten zugeknöpft die Innenstadt an. Irgendwas geht ja immer. Irgendwo müssen die Seebären ihre Geschichten loswerden, Dittsche geht sicherlich nicht nach Drehschluss ins Bett und Ina Müller wirkt so, als ob sie täglich in einer Kaschemme für ihre Sendung probt. Wie kriegen die sich sonst dicht, wenn die alle dicht machen würden?

Nachdem die ersten Läden ihre Tore vor unserer Nase schlossen, entschieden wir uns für die Touristennummer. McDonalds - Bahnhof, darauf ist verlass, das Prinzip gilt auf der ganzen Welt und Hamburg gehört ja irgendwie dazu. Die Feuerwehr und Polizeistaffeln ließen es bereits vermuten, eine unspektakuläre Rauchentwicklung versperrte uns den Durchgang zu den rettenden Fast Food Ketten im Bahnhof. Angeblich haben sich St. Pauli Fans zu St. Pauli Anhängern degradiert.

Ein kleiner Abstecher in die Zigeuner Straße hinterm Bahnhof reichte aus um uns festzulegen: Kiez nervt, sogar im Kleinen. Neonlicht Milieu, außer für ein paar schlechte Reportagen über „das Geschäft mit der Lust“ war das Gepose echt nicht zu gebrauchen. Über den meisten Geschäften glimmte das Neonlicht nur noch schwach oder war gänzlich ausgefallen. Es sah aus, als seien die Buchstaben aus der Reklame geflohen, wie in der Sesamstraße bei den Buchstabendetektiven. Wer kann es ihnen verdenken? Genau wie Humphrey Gocard und Ludwig Lupe blieben wir auf unserer Suche ebenfalls erfolglos. Nirgends gab es ein ansprechendes Plätzchen für die nächsten Stunden. Nach unserer kleinen Odyssee, ich wiederhole mich gerne, in Hamburg ist nichts los, konnten wir wenigstens den Bahnhof betreten.

Aus Betrieblichen Gründen geschlossen. Falls überhaupt einmal im Jahr bei McDonalds der Fettabscheider ausgetauscht wird, dann findet es um den 29. November statt. Als wärmende Unterkunft blieben jetzt nur noch die Warteräume, zwischen den Gleisen. Meine charmante Begleiterin kaufte bei einem freien Journalisten, der vor dem Bahnhof die tagesaktuelle Presse vertickte, den Stern und wir bequemten uns auf die pragmatisch gehaltenen Sitze in den Warteraum. Mit uns wartete ein älteres Paar auf die Weiterreise. Sie lösten Kreuzworträtsel und spielten sich gegenseitig die Buchstaben, Reihen und Synonyme zu. Während ich den Stern las, und zwar alles darin, betraten weitere Nachtschwärmer den Warteraum. „McDonalds hat dicht, wusstet ihr schon?“

Vor den Gleisen begannen sich Punks zu tummeln. Punks sind schon lange zur Mode verkommen und so sahen diese Kollegen auch aus. Entweder schrieen sie laut „Ficken“ in die Bahnhofshalle oder sie klaubten Geld für weiteres Bier zusammen. Im Grunde nichts anderes als in jedem Sportverein. Mittlerweile hat sich unser Streckenposten gefüllt, man spürte regelrecht die wortlose Verbundenheit zwischen uns, wir gegen die Kälte und die Punks und die Punks gegen alles. Eine Dame aus Kiel kam gerade vom Toten Hosen Konzert und fing das Erzählen an. Früher waren Punks noch richtige Punks, sie meinte damit sich, und mit Campino konnte man früher Bier zusammen trinken, heute pennt der im Vierjahreszeiten. Zur ganz großen Brandrede gegen das Establishment kam es zum Glück nicht, das Konzert war nämlich geil. Sie hatte den Beweis auf ihrem Handy und wir bald auf Youtube. Der komplette Speicher war voll! Mensch. Ich frage mich, ob das sofortige drauflos Duzen und die Aussicht auf Aufmerksamkeit in dieser Selbstverständlichkeit, vom Punkrock hören kommen? Na klar hängt das zusammen, sie erzählt ja von nichts anderem. Ich kann hin und wieder was einstreuen. Buchwissen. Reicht aber.

Stunden später. Die Punks verstummten und stiegen in den ersten Zug. Diese AOK Lümmels hatten bestimmt ein Gruppenticket. Uns gegenüber hat ein junger Mann platz genommen. Er hörte auf seinem weißen iPhone viel zu aufdringlich Musik. Ohnehin war er bemüht das Klischee eines pseudoreichen Albaners zu entsprechen. Die Schuhe waren weiße, abgelatschte Jordans, die Hose eine Stonewashed Jeans mit reichlich fragwürdigen Applikationen, schwarzes, hochgegeltes, leicht schütteres Haar, Ohring, vermutlich von Snipes, und auf seiner Jacke stand irgendetwas übertrieben großes, das an Dieter Bohlens Klamottengeschmack erinnerte.
Bis auf die Musik, ein zurückhaltender Typ. Spannend machte es eine ältere, fußlahme Dame, die versuchte ihren Rollstuhl in den Warteraum zu drücken.
„Geht es?“ Ja, nein, was denn nun?

Endlich saß sie und fing direkt an zu erzählen. Ich weiß nicht mehr, ob irgendwer sie dazu angestachelt hat oder ob sie von sich aus auf das brisante Thema „Migrationsprobleme“ kam. Erst vor kurzem wurden ihr das neue Samsung Handy und mehrere Hundert Euro aus der Jackentasche geklaut. Einfach so! Warum haben alte Menschen auch immer soviel Bargeld bei sich? Wären mir hunderte von Euro aus meiner offenen Wolfskin Jacke geklaut worden, hätte ich dafür nur Spot und Hohn geerntet. „Gott, bist du blöd, selbst schuld.“
Die Dame hingegen lieferte den Schuldigen gleich mit. „Der Albaner war es! Der kommt hier her und beklaut fußlahme Damen.“

Ich schaute zu dem jungen Mann rüber. Seine Musik war mittlerweile abgeklungen. Er setzte seinen Rollkoffer etwas zurück, ich dachte, nun verlässt er wortlos den Raum, den Bahnhof, das Land. Es kam besser. Er platzierte seinen Fuß auf den Koffer und sagte, das mit den Diebstählen, das seien die Kosovo Albaner, die ganzen Zigeuner. Der Albaner an sich ist kein schlechter Mensch. Er sei nämlich selber einer.
Das sah man doch! Mensch Omi, wie wäre es, wenn du mal statt deiner Jackentasche, die Augen aufmachst? Die Dame entschuldigte sich kleinlaut, nahm aber das neue Feindbild sofort dankend an. „Jaja, diese Kosovo Albaner, diese Zigeuner, die waren das.“
Ihr ist doch egal was sie redet. Uns auch.
Wenig später musste sie niesen, eine Vorlage, die der zuvorkommende Albaner mit seinen Genesungswünschen sauber verwandelte. Als einziger.

Daraufhin kam unser Zug. Viel zu spät , dennoch etwas zu früh.

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