Den Tag vor dem Feiertag überlebe ich
nur mit viel Hoffnung darauf das auch dieser Tag irgendwann ein Ende
hat. Wenn die Motivation zusammengeschlagen am Boden liegt, ist es
schwer fröhlich und beschwingt durch den Tag zu kommen. Gestern
gegen Feierabend gab es noch einen Aushang am Schwarzen Brett. „Um
unsere Disposition zu optimieren, werden ab dem 3.5.14 alle LKW mit
Ortungssystem ausgestattet.“ Bedeutet so viel wie: Vertrauen ist
gut, Kontrolle ist besser. Irgendwo in der Chefetage sitzt ein
Eierkopp der wohl meint alles besser machen zu können und nicht
merkt das seit Monaten alles nur schlimmer wird.
Egal, der Tag hat irgendwann ein Ende
und dann ist Tanz in den Mai angesagt. Also schon mal langsam
vorplanen wie und wo man den Abend verbringen kann. Zur Auswahl steht
einmal die Maifeier des Nachbarn. Zum anderen ein wenig rumhängen
mit alten Freunden. Nach ein paar Telefonaten entscheide ich mich
gegen die nachbarliche Maifeier und für das gepflegte Rumhängen mit
alten Freunden.
Wir entscheiden uns für einen Abend im
Stile eines Klammerblues. Langsam angehen lassen. Ganz langsam. Wir
sind alle nicht mehr die jüngsten und haben die dollsten Tage längst
hinter uns gelassen. Als ich noch Mitte Zwanzig war, da floss der
Maibock in Strömen. Heute hängt das Damoklesschwert von Familie,
Arbeit und Verantwortung über uns. Und nicht zuletzt, die
geschundenen Knochen. Den ersten Mai mit dicken Kopp und Hausmitteln
zur Bekämpfung des Katers zu verbringen, ist schon lange nicht mehr
wirklich eine Option. Freie Tage sind kostbar geworden und wollen
genossen werden.
Wir entscheiden uns für eine Kneipe
oder das was man früher Kneipe nannte und jetzt … ich weiß gar
nicht wie das jetzt heißt. Kneipe auf alle Fälle nicht mehr. Im mit
Sonnenschirmen überdachten Biergarten, mit der Option zum Tresen zu
wechseln falls es zu nass-kalt wird, lässt es sich aushalten.
Wir lecken uns bei einem Kaltgetränk
unsere Wunden die uns durch Arbeit, Leben und/oder Umstände zugefügt
wurden. Na gut, ganz so schlimm ist es nicht. Man erzählt sich halt
was so alles in den letzten Monaten, in denen man sich nicht gesehen
hat, passiert ist. Schwelgt in Erinnerungen. Redet über die Zukunft.
Trinkt noch ein Kaltgetränk.
Und dann, nach den dritten oder vierten
Kaltgetränk, sind wir doch wieder irgendwie Mitte Zwanzig und
glotzen den pornonesque aufgetakelten Mädels hinterher.
„Mach dir nicht den Hunger kaputt!“
hat mich meine Mutter immer ermahnt. Sie meinte damit, ich solle vor
den Mahlzeiten nicht ständig was essen damit ich zu den Mahlzeiten
auch noch Appetit auf die Mahlzeit habe. Aber Hunger ist doch nur ein
Gefühl. Wie kann man sich ein Gefühl kaputt machen? Hunger kommt
immer wieder, jeden Tag. So habe ich damals als sechs- oder
siebenjähriger gedacht. Heute möchte ich den pornonesque
aufgetakelten Mädels hinterher schreien „Mach dir nicht die Liebe
kaputt!“
Mädels... an diesen Abend sind die
„Mädels“ Frauen Mitte dreißig bis vielleicht Mitte vierzig, die
sich in knappe Schale geworfen haben um sich zum fünften oder
sechsten Frühling, den sie gerade erleben, etwas passendes an Land
zu ziehen. Bei uns sagt man dazu „Auf Trebe gehen“. Es scheint
mir, für sie ist Liebe wie ein Hungergefühl das man stillen muss.
Und sei es mit einem kleinen Snack zwischendurch. Geh'n wir ma auf
Trebe und schau'n ma wat wa an Land ziehen können. Wenn et nix is,
nächstes Wochenende könn' wa ja wieder auf Trebe geh'n.
Im laufe des Abends steht die Queen of
Pornonesque mehr oder minder plötzlich neben mir. Als Realist würde
ich sagen, sie stand schon eine ganze Zeit neben mir. Nur
aufgefallen, ist es mir relativ plötzlich. Sie hatte mich ein paar
mal leicht angerempelt, so ganz aus versehen, so als wenn nicht genug
Platz für alle da wäre, als wäre man in der U-Bahn und könnte gar
nichts dagegen tun das die U-Bahn überraschend und unvermittelt
anfährt.
Platz war eigentlich genug vorhanden,
ich habe mich jedoch an unhöfliche und aufdringliche Menschen
gewöhnt und ignoriere sie einfach. Deswegen fiel mir ihre Rempelei
anfangs wahrscheinlich gar nicht so sehr auf.
Als sie dann aber etwas deutlicher und
betonter rempelte, ging auch mir Holzkopf ein Licht auf. So ganz
unbeabsichtigt war das Gerempel wohl nicht. Bis dahin hatte ich nur
ihre Rückansicht wahrgenommen. Lassen wir mal den etwas zu engen und
kurzen Rock außen vor, genauso wie das zu enge und zu knappe
Oberteil, was gibt es schon an der Rückseite einer Frau zu
beurteilen. Ausgenommen sie hat drei Beine oder einen dritten Arm der
ihr aus'm Rücken wächst. Ich bereitete mich darauf vor mir ein
Lächeln ins Gesicht zu zaubern falls sich gleich Mrs. Right umdrehen
und mich anschauen würde.
Beim nächsten Rempler, den sie gekonnt
mit der Schulter ausführte, gab sie mir dann die Chance einen Blick
in ihr Gesicht zu werfen. Instinktiv zog ich die Mundwinkel hoch und
und bei der Instinkthandlung blieb es auch. Von vorne sah sie aus als
hätte ihr Macker erst vor kurzem mit steigender Freude ihr Gesicht
mit den Fäusten bearbeitet. Ein paar aufs Maul, bis die Lippen
aussehen wie ein knallrotes Gummiboot. Zwei drei gekonnte Schläge
auf die Augen bis sie die ganze Farbpalette zwischen Blau und Grün
einnehmen. Zu guter Letzt noch ein paar Backpfeifen, so spart man das
Rouge.
Sie schaute kurz weg, drehte sich dann
doch wieder zu mir um und grinste mich an. „Ok, jetzt musst du was
sagen...“ dachte ich mir. Irgendwas belangloses. Ich entfachte ein
Feuerwerk der Phantasie, zog den Jokertrumpf und war darauf
vorbereitet das gleich die Phantasiefeuerwehr kommt damit nicht
gleich der ganze Laden in Brand gerät: „Gute Musik“ schrie ich
ihr ins Ohr und deutete mit dem Zeigefinger in Richtung Decke von wo
die Dudelmusik zu kommen schien.
„Ja. Is doch ok. Ich finds gut.“
brüllte sie zurück und versuchte irgendwie eine rhythmische
Bewegung zu einen imaginären Takt zu machen. Ich musterte sie kurz
von oben bis unten. Ihre Bewegungen, die so schlacksig und
unkoordiniert waren, hatten ihre Ursache wahrscheinlich in ihrem
Schuhwerk. Nix gegen hochhackige Schuhe, sieht toll aus. Hätte sie
die Schuhe jedoch an Ort und Stelle ausgezogen, sie hätte mir nicht
mehr in die Augen schauen können. Höchstens noch in den Bauchnabel.
„Finds nicht gut? Musik?“ schrie sie mir ins Ohr.
Meine Antwort lies eine kurze Weile auf
sich warten. Pfläumchen, Schlüpperstürmer, Kleiner Feigling und
wie die ganzen Minifläschchen heißen die man unter lauten Getöse
auf irgendeiner Tischplatte, Tresen oder Barhocker kloppt bevor man
sie öffnen darf, in Kombination mit Jägermeister-Cola und anderer
untoten Mixgetränken aus den 80ern, dazu Energy Drinks plus Alkohol,
ergeben einen Atem der wie Klostein riecht.
Ich dachte, meine offenherzige Art
jedem Menschen frei raus zu sagen was er (oder sie) verdient, könnte
mich jetzt aus der Situation retten. Wenn auch wenig charmant, dafür
kurz und schmerzvoll. „Dein Atem riecht nach Klostein!“ brüllte
ich ihr ins Ohr während der DJ von Rudis Rollender Rubeldisco den
Lautstärkeregler für den nächsten Refrain noch einmal weit über
Anschlag hinaus aufdrehte. „JA. Das ist Rammstein“ antwortete sie
mir und nebelte mich erneut mit eine Wolke aus Cola-Klostein-Geruch
ein.
Nein Schätzelein. Weder bin ich in
Sachen Rammstein noch Dudelpop auch nur ansatzweise Experte. In
beiden Bereichen fehlt mir sogar Basiswissen. Aber eins weiß ich,
bei Rammstein singt keine Frau. Und das was da gerade mit 130 Dezibel
aus den Lautsprechern tönt, ist eines dieser DSDS-Sternchen dessen
Namen man sich nie merken kann weil der eine Halbwertzeit einer
schmutzigen Unterhose hat.
Sie grinste nun etwas breiter, fast so
als hätten wir eine gemeinsame Basis für ein längeres Gespräch
gefunden. Scheiße. Wat nu? Die Musik ist zu grausam und vor allem zu
laut um ihr etwas erklärendes zu sagen. Die Frau ist auch viel zu
besoffen um etwas erklärendes zu verstehen. Aussichtslos das ganze
mit Worten zu lösen?
Vor zwanzig Jahren hätte ich ihr eine
Freifahrt mit Ficken angeboten oder sie gleich vor Ort flachgelegt.
Quatsch, stimmt gar nicht. Vor zwanzig Jahren wäre ICH so
dudelhackendicht gewesen das ich eine Blondine nicht von einen
Bobtail hätte unterscheiden können und somit gar nicht in der Lage
gewesen irgendwen flachzulegen. Mich selber ausgenommen.
Mittlerweile stört es mich extrem wenn
jemand so dudelhackendicht ist und recht offensichtlich versucht MICH
flachzulegen, dies aber bei besten Willen nicht mehr hinbekommen
würde, selbst wenn ich tatkräftig dabei helfen würde.
Der Übergang von selber zu besoffen
sein um jemanden anderes flachzulegen dahin das die anderen zu
besoffen sind als das man sie flachlegen wollen würde, ist sehr
abrupt. Oder ich habe die Zwischenphase schlichtweg verpasst. Der
Gedankengang brachte mich aber auf eine Idee und so brüllte ich ihr
„Ich bin Optikficker und du bist nicht mein Kaliber!“ ins Ohr.
Ihre Reaktion: „Du bist Optiker? Habe ich gemerkt, schöne Brille
hast du...“
Ich lies es unkommentiert, machte keine
weiteren Versuche irgendwas zu unternehmen und schaute sie mit leeren
Auge an. Ende im Gelände was meine Weisheit betraf. Zum Glück
drehte sie sich auch im gleichen Augenblick zu ihrer Freundin um.
Aber wie in jeden guten Horrorfilm, wenn man denkt es ist gerade
vorbei, steht der Kettensägenmörder plötzlich wieder mit
kreischender Kettensäge in der Tür und war wohl gerade nur mal kurz
die Kettensäge tanken.
Ihre Kettensäge war ihre Stimme, ihre
Tankfüllung eine kleine Falsche die aussah wie Kümmerling, roch wie
Krankenhausabwasser und aussah wie Altöl. „HIER!“ schrie sie und
drückte mir die kleine Flasche ins Gesicht. Es entwickelte sich ein
kurzer Dialog aus „Nein Danke! MussNochFahrn!“ und
„AchKommTrinkMaEinen!“ der daraus bestand, dass jeder seinen Satz
dreimal wiederholte. Dumm gelaufen für mich, sie hat den Dialog gewonnen. Stößchen, sie legte den Kopf in den
Nacken, ich nutze die Gelegenheit und warf die Flasche dezent
irgendwo hinter mir auf den Boden.
Ich weiß gar nicht wozu man Freunde
hat. In solchen Momenten können sie ganz weit weg sein obwohl sie
direkt neben dir stehen. Also gab ich meinem Kollegen einen dezenten
Tritt gegen das Schienbein und erregte somit seine Aufmerksamkeit.
Wortlos deutete ich der Queen of Pornonesque mit Händen an das mein
Kollege gerne gehen würde und ich leider, leider mit müsse.
„Ochschadeaberauch...“ gurgelte sie mir noch ins Ohr bevor ich
mich aus ihrer Reichweite entfernte.
Ich beendete den Abend recht frühzeitig
und überlegte ob beim Nachbarn wohl noch Licht brennen würde und
etwas von der Maibowle übrig sei. Dieser Gedanke wurde jedoch von
einen anderen Gedanken verdrängt. Ist Liebe ein Hungergefühl das
man stillen muss, egal mit was, Hauptsache satt? Ist Liebe wie ein
Hungergefühl das jeden Tag aufs neue zurück kommt, das nicht tot zu
bekommen ist egal wie oft man es füttert?
Der Tag ist für mich zu Ende und ich
schließe den Gedankengang mit einen Zitat von dem alten Zausel Steve
Jobs: Stay hungry. Stay foolish. Es passt, auch wenn er
wahrscheinlich was ganz anderes meinte. Oder vielleicht auch nicht.
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