Mittwoch, 21. Mai 2014

Mittwoch, den 30. April 2014 - Ralf

Den Tag vor dem Feiertag überlebe ich nur mit viel Hoffnung darauf das auch dieser Tag irgendwann ein Ende hat. Wenn die Motivation zusammengeschlagen am Boden liegt, ist es schwer fröhlich und beschwingt durch den Tag zu kommen. Gestern gegen Feierabend gab es noch einen Aushang am Schwarzen Brett. „Um unsere Disposition zu optimieren, werden ab dem 3.5.14 alle LKW mit Ortungssystem ausgestattet.“ Bedeutet so viel wie: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Irgendwo in der Chefetage sitzt ein Eierkopp der wohl meint alles besser machen zu können und nicht merkt das seit Monaten alles nur schlimmer wird.

Egal, der Tag hat irgendwann ein Ende und dann ist Tanz in den Mai angesagt. Also schon mal langsam vorplanen wie und wo man den Abend verbringen kann. Zur Auswahl steht einmal die Maifeier des Nachbarn. Zum anderen ein wenig rumhängen mit alten Freunden. Nach ein paar Telefonaten entscheide ich mich gegen die nachbarliche Maifeier und für das gepflegte Rumhängen mit alten Freunden.

Wir entscheiden uns für einen Abend im Stile eines Klammerblues. Langsam angehen lassen. Ganz langsam. Wir sind alle nicht mehr die jüngsten und haben die dollsten Tage längst hinter uns gelassen. Als ich noch Mitte Zwanzig war, da floss der Maibock in Strömen. Heute hängt das Damoklesschwert von Familie, Arbeit und Verantwortung über uns. Und nicht zuletzt, die geschundenen Knochen. Den ersten Mai mit dicken Kopp und Hausmitteln zur Bekämpfung des Katers zu verbringen, ist schon lange nicht mehr wirklich eine Option. Freie Tage sind kostbar geworden und wollen genossen werden.

Wir entscheiden uns für eine Kneipe oder das was man früher Kneipe nannte und jetzt … ich weiß gar nicht wie das jetzt heißt. Kneipe auf alle Fälle nicht mehr. Im mit Sonnenschirmen überdachten Biergarten, mit der Option zum Tresen zu wechseln falls es zu nass-kalt wird, lässt es sich aushalten.
Wir lecken uns bei einem Kaltgetränk unsere Wunden die uns durch Arbeit, Leben und/oder Umstände zugefügt wurden. Na gut, ganz so schlimm ist es nicht. Man erzählt sich halt was so alles in den letzten Monaten, in denen man sich nicht gesehen hat, passiert ist. Schwelgt in Erinnerungen. Redet über die Zukunft. Trinkt noch ein Kaltgetränk.
Und dann, nach den dritten oder vierten Kaltgetränk, sind wir doch wieder irgendwie Mitte Zwanzig und glotzen den pornonesque aufgetakelten Mädels hinterher.

„Mach dir nicht den Hunger kaputt!“ hat mich meine Mutter immer ermahnt. Sie meinte damit, ich solle vor den Mahlzeiten nicht ständig was essen damit ich zu den Mahlzeiten auch noch Appetit auf die Mahlzeit habe. Aber Hunger ist doch nur ein Gefühl. Wie kann man sich ein Gefühl kaputt machen? Hunger kommt immer wieder, jeden Tag. So habe ich damals als sechs- oder siebenjähriger gedacht. Heute möchte ich den pornonesque aufgetakelten Mädels hinterher schreien „Mach dir nicht die Liebe kaputt!“

Mädels... an diesen Abend sind die „Mädels“ Frauen Mitte dreißig bis vielleicht Mitte vierzig, die sich in knappe Schale geworfen haben um sich zum fünften oder sechsten Frühling, den sie gerade erleben, etwas passendes an Land zu ziehen. Bei uns sagt man dazu „Auf Trebe gehen“. Es scheint mir, für sie ist Liebe wie ein Hungergefühl das man stillen muss. Und sei es mit einem kleinen Snack zwischendurch. Geh'n wir ma auf Trebe und schau'n ma wat wa an Land ziehen können. Wenn et nix is, nächstes Wochenende könn' wa ja wieder auf Trebe geh'n.

Im laufe des Abends steht die Queen of Pornonesque mehr oder minder plötzlich neben mir. Als Realist würde ich sagen, sie stand schon eine ganze Zeit neben mir. Nur aufgefallen, ist es mir relativ plötzlich. Sie hatte mich ein paar mal leicht angerempelt, so ganz aus versehen, so als wenn nicht genug Platz für alle da wäre, als wäre man in der U-Bahn und könnte gar nichts dagegen tun das die U-Bahn überraschend und unvermittelt anfährt.

Platz war eigentlich genug vorhanden, ich habe mich jedoch an unhöfliche und aufdringliche Menschen gewöhnt und ignoriere sie einfach. Deswegen fiel mir ihre Rempelei anfangs wahrscheinlich gar nicht so sehr auf.

Als sie dann aber etwas deutlicher und betonter rempelte, ging auch mir Holzkopf ein Licht auf. So ganz unbeabsichtigt war das Gerempel wohl nicht. Bis dahin hatte ich nur ihre Rückansicht wahrgenommen. Lassen wir mal den etwas zu engen und kurzen Rock außen vor, genauso wie das zu enge und zu knappe Oberteil, was gibt es schon an der Rückseite einer Frau zu beurteilen. Ausgenommen sie hat drei Beine oder einen dritten Arm der ihr aus'm Rücken wächst. Ich bereitete mich darauf vor mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern falls sich gleich Mrs. Right umdrehen und mich anschauen würde.

Beim nächsten Rempler, den sie gekonnt mit der Schulter ausführte, gab sie mir dann die Chance einen Blick in ihr Gesicht zu werfen. Instinktiv zog ich die Mundwinkel hoch und und bei der Instinkthandlung blieb es auch. Von vorne sah sie aus als hätte ihr Macker erst vor kurzem mit steigender Freude ihr Gesicht mit den Fäusten bearbeitet. Ein paar aufs Maul, bis die Lippen aussehen wie ein knallrotes Gummiboot. Zwei drei gekonnte Schläge auf die Augen bis sie die ganze Farbpalette zwischen Blau und Grün einnehmen. Zu guter Letzt noch ein paar Backpfeifen, so spart man das Rouge.

Sie schaute kurz weg, drehte sich dann doch wieder zu mir um und grinste mich an. „Ok, jetzt musst du was sagen...“ dachte ich mir. Irgendwas belangloses. Ich entfachte ein Feuerwerk der Phantasie, zog den Jokertrumpf und war darauf vorbereitet das gleich die Phantasiefeuerwehr kommt damit nicht gleich der ganze Laden in Brand gerät: „Gute Musik“ schrie ich ihr ins Ohr und deutete mit dem Zeigefinger in Richtung Decke von wo die Dudelmusik zu kommen schien.

„Ja. Is doch ok. Ich finds gut.“ brüllte sie zurück und versuchte irgendwie eine rhythmische Bewegung zu einen imaginären Takt zu machen. Ich musterte sie kurz von oben bis unten. Ihre Bewegungen, die so schlacksig und unkoordiniert waren, hatten ihre Ursache wahrscheinlich in ihrem Schuhwerk. Nix gegen hochhackige Schuhe, sieht toll aus. Hätte sie die Schuhe jedoch an Ort und Stelle ausgezogen, sie hätte mir nicht mehr in die Augen schauen können. Höchstens noch in den Bauchnabel. „Finds nicht gut? Musik?“ schrie sie mir ins Ohr.

Meine Antwort lies eine kurze Weile auf sich warten. Pfläumchen, Schlüpperstürmer, Kleiner Feigling und wie die ganzen Minifläschchen heißen die man unter lauten Getöse auf irgendeiner Tischplatte, Tresen oder Barhocker kloppt bevor man sie öffnen darf, in Kombination mit Jägermeister-Cola und anderer untoten Mixgetränken aus den 80ern, dazu Energy Drinks plus Alkohol, ergeben einen Atem der wie Klostein riecht.

Ich dachte, meine offenherzige Art jedem Menschen frei raus zu sagen was er (oder sie) verdient, könnte mich jetzt aus der Situation retten. Wenn auch wenig charmant, dafür kurz und schmerzvoll. „Dein Atem riecht nach Klostein!“ brüllte ich ihr ins Ohr während der DJ von Rudis Rollender Rubeldisco den Lautstärkeregler für den nächsten Refrain noch einmal weit über Anschlag hinaus aufdrehte. „JA. Das ist Rammstein“ antwortete sie mir und nebelte mich erneut mit eine Wolke aus Cola-Klostein-Geruch ein.

Nein Schätzelein. Weder bin ich in Sachen Rammstein noch Dudelpop auch nur ansatzweise Experte. In beiden Bereichen fehlt mir sogar Basiswissen. Aber eins weiß ich, bei Rammstein singt keine Frau. Und das was da gerade mit 130 Dezibel aus den Lautsprechern tönt, ist eines dieser DSDS-Sternchen dessen Namen man sich nie merken kann weil der eine Halbwertzeit einer schmutzigen Unterhose hat.

Sie grinste nun etwas breiter, fast so als hätten wir eine gemeinsame Basis für ein längeres Gespräch gefunden. Scheiße. Wat nu? Die Musik ist zu grausam und vor allem zu laut um ihr etwas erklärendes zu sagen. Die Frau ist auch viel zu besoffen um etwas erklärendes zu verstehen. Aussichtslos das ganze mit Worten zu lösen?

Vor zwanzig Jahren hätte ich ihr eine Freifahrt mit Ficken angeboten oder sie gleich vor Ort flachgelegt. Quatsch, stimmt gar nicht. Vor zwanzig Jahren wäre ICH so dudelhackendicht gewesen das ich eine Blondine nicht von einen Bobtail hätte unterscheiden können und somit gar nicht in der Lage gewesen irgendwen flachzulegen. Mich selber ausgenommen.
Mittlerweile stört es mich extrem wenn jemand so dudelhackendicht ist und recht offensichtlich versucht MICH flachzulegen, dies aber bei besten Willen nicht mehr hinbekommen würde, selbst wenn ich tatkräftig dabei helfen würde.

Der Übergang von selber zu besoffen sein um jemanden anderes flachzulegen dahin das die anderen zu besoffen sind als das man sie flachlegen wollen würde, ist sehr abrupt. Oder ich habe die Zwischenphase schlichtweg verpasst. Der Gedankengang brachte mich aber auf eine Idee und so brüllte ich ihr „Ich bin Optikficker und du bist nicht mein Kaliber!“ ins Ohr. Ihre Reaktion: „Du bist Optiker? Habe ich gemerkt, schöne Brille hast du...“

Ich lies es unkommentiert, machte keine weiteren Versuche irgendwas zu unternehmen und schaute sie mit leeren Auge an. Ende im Gelände was meine Weisheit betraf. Zum Glück drehte sie sich auch im gleichen Augenblick zu ihrer Freundin um. Aber wie in jeden guten Horrorfilm, wenn man denkt es ist gerade vorbei, steht der Kettensägenmörder plötzlich wieder mit kreischender Kettensäge in der Tür und war wohl gerade nur mal kurz die Kettensäge tanken.

Ihre Kettensäge war ihre Stimme, ihre Tankfüllung eine kleine Falsche die aussah wie Kümmerling, roch wie Krankenhausabwasser und aussah wie Altöl. „HIER!“ schrie sie und drückte mir die kleine Flasche ins Gesicht. Es entwickelte sich ein kurzer Dialog aus „Nein Danke! MussNochFahrn!“ und „AchKommTrinkMaEinen!“ der daraus bestand, dass jeder seinen Satz dreimal wiederholte. Dumm gelaufen für mich, sie hat den Dialog gewonnen. Stößchen, sie legte den Kopf in den Nacken, ich nutze die Gelegenheit und warf die Flasche dezent irgendwo hinter mir auf den Boden.
Ich weiß gar nicht wozu man Freunde hat. In solchen Momenten können sie ganz weit weg sein obwohl sie direkt neben dir stehen. Also gab ich meinem Kollegen einen dezenten Tritt gegen das Schienbein und erregte somit seine Aufmerksamkeit. Wortlos deutete ich der Queen of Pornonesque mit Händen an das mein Kollege gerne gehen würde und ich leider, leider mit müsse. „Ochschadeaberauch...“ gurgelte sie mir noch ins Ohr bevor ich mich aus ihrer Reichweite entfernte.
Ich beendete den Abend recht frühzeitig und überlegte ob beim Nachbarn wohl noch Licht brennen würde und etwas von der Maibowle übrig sei. Dieser Gedanke wurde jedoch von einen anderen Gedanken verdrängt. Ist Liebe ein Hungergefühl das man stillen muss, egal mit was, Hauptsache satt? Ist Liebe wie ein Hungergefühl das jeden Tag aufs neue zurück kommt, das nicht tot zu bekommen ist egal wie oft man es füttert?

Der Tag ist für mich zu Ende und ich schließe den Gedankengang mit einen Zitat von dem alten Zausel Steve Jobs: Stay hungry. Stay foolish. Es passt, auch wenn er wahrscheinlich was ganz anderes meinte. Oder vielleicht auch nicht.

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